2018 war ich mit meiner Frau in Andalusien. Der Süden Spaniens ist ein herrliches Reiseziel – besonders sehenswert ist aber die Stadt Cadiz, weil sie auf einer Insel vor der atlantischen Küste liegt. In der Altstadt gibt es eine „camera obscura“, das ist ein Loch im Dach, durch welches Tageslicht über einen Spiegel auf einen Tisch projiziert wird. Die dortige Konstruktion ist aus unseren Tagen, für Menschen der Renaissance muss so ein Apparat aber bizarr wie ein Außerirdischer gewirkt haben: Man steht dort in einer finsteren Kammer und blickt auf einen erleuchteten Tisch. Darauf sieht man die Menschen der Straße draußen. Sie gehen in Echtzeit durch das Bild. Legt man ein gefaltetes Blatt Papier auf die Projektionsfläche, laufen sie herauf und herab wie die Ameisen. Davon merken die Menschen draußen freilich nichts. Ein gespenstisches Schauspiel! Man kann sich gut vorstellen, dass so ein Apparat einem Renaissancemensch höllisch Angst bereitet hat – und das wahrscheinlich nicht nur Bauernburschen, sondern auch Kardinälen und Wissenschaftlern. In einer Welt zweihundert Jahre vor der Daguerreotypie war so etwas Hexerei und Teufelszeug!

Man sieht auf dem Tisch aber nicht nur Menschen, sondern auch die Dächer von Cadiz, jener uralten Stadt, die wahrscheinlich die älteste Spaniens ist. Ihre Dächer sind flach und bewohnt. Außerdem haben viele von ihnen einen Turm. Dieser sieht nicht so aus, wie Mitteleuropäer ihn sich vorstellen würden. Sie sehen eher aus wie ein stuhlartiges Plateau, das man mit einer Leiter besteigen kann, um das Meer zu sehen. Sie stammen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. In vielen der Häuser lebten Kaufleute, die auf die nächsten Handelsschiffe warteten. Wenn diese endlich kamen, wollte man nicht zu spät beim Hafen sein. Bewohnte Flachdächer mit Sonnenterrasse gab es also schon lange bevor Le Corbusier seine Visionen einer neuen Architektur formulierte. Heute wirbt Cadiz mit über einhundert Türmen für sich. 

Hoch zu bauen war schon immer ein Privileg. Es ist immer Ausdruck dessen, was eine Gesellschaft hoch hält: den Kommerz, die Religion, das Fernsehen oder die Feuerwehr. 

Der Turm ist für mich ein einzigartiges Element der Architektur – eigentlich mit nichts zu vergleichen. Er ist das einzige architektonische Motiv, das es auf das Schachbrett geschafft hat. Alle anderen Figuren sind aus Fleisch und Blut. Dabei ist der Turm keine statische Figur. Erfahrene Schachspieler wissen, welchen immensen Druck Türme aufbauen, wenn sich einmal das Spielfeld lichtet. Der Turm ist in der Architektur damit so einzigartig wie das Pferd in der Tierwelt. Beide Elemente sind leider selten in der modernen Stadt.

Wenn ich heute mit meiner Tochter durch Schwabing laufe, sehe ich dass sie unterscheidet in Häuser ohne Turm und Häuser mit Turm. Für sie sind Türme die Orte, wo die „Bim bam“ wohnt. Man muss dazu sagen, dass sie zwei ist. Es ist mir wunderlich, welchen Reiz Türme auf sie ausüben. „Bim bams“ wohnen in allen Blechtürmchen, sie wohnen auf jeder Erkerhaube und über jedem Zwiebelmotiv. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. 

Ich möchte Ihnen nun drei Gebäude aus München zeigen, die drei Dinge gemein haben: Sie dienen einem Lehrzweck, sie sind alle um 1905 entstanden und sie haben alle einen Turm. 

  1. Beispiel – Die Berufsschule für Fahrzeugtechnik, Elisabethplatz (siehe Bild)

Kann eine Schule überhaupt einen schlechten Ruf haben, wenn sie in einem solchen Gebäude sitzt?

Besser kann man die Begriffe „Klassengemeinschaft“ oder „Strebsamkeit“ kaum in Architektur gießen. Die Suche nach einem „Schullogo“ dürfte zumindest sehr kurz gewesen sein. Für mich ist der Elisabethmarkt als Ensemble eine Lehrstunde dessen, was wir Städtebau nennen.  

  1. Beispiel – Oskar-von-Miller-Gymnasium bzw. Maximiliansgymnasium (siehe Bild)

Für mich ist die Vorstellung, einen Turm an eine Schule zu bauen so dermaßen spektakulär, weil es den Wert von Schule und Bildung hochhält. Der Turm hat dabei seine Funktion: Jedes Schulkind läuft morgens seinen Weg auf einen Turm zu. An ihm prangt eine Uhr, die zur Pünktlichkeit mahnt und das Ziel des Weges wird klar: Bildung!

Das Gebäude des Doppelgymnasiums war übrigens schon mehrfach Drehort für Film und Fernsehen. Wahrscheinlich sahen auch die Regisseure etwas in dem Gebäude, das mehr ist, als die Summe seiner Fördermittel. Einer dieser Regisseure war Harald Reinl (Stichwort: Winnetou). Er drehte in dem Gymnasium den Schulklamauk „Die Lümmel von der ersten Bank – Teil 3“. In der Besetzung: Hansi Kraus (nicht verwandt), Theo Lingen, Uschi Glas, Hannelore Elsner, Hans Clarin, Rudolf Schündler und viele mehr. (Hier der Film: https://www.youtube.com/watch?v=JVS4OsWdYBY)

Für mich sind diese beiden Beispiele Sternstunden des Schulbaus. 

  1. Beispiel – Das deutsche Museum, das keiner Erläuterung bedarf.

Diese drei Gebäude sind deshalb gewählt, weil sie zeitgleich zu Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie entstanden, in einer Zeit, da die Deutschen etwa jeden vierten Nobelpreis abräumten. Das alles hatte auch mit der Verfassung der Lehrgebäude zu tun. Mit den Türmen werden Forschung und Bildung hochgehalten, denn Qualität entsteht nur durch Persönlichkeit. Und wer den Mut hat, Türme an seine Lehrgebäude zu bauen, gibt seinen Schülern eine Vision. 

14.3.21

Zuerst veröffentlicht auf Facebook

 

Bilder: