Starten wir mit einem Blick auf die Altstadt. In Deutschland stammt sie meist aus dem Mittelalter. Das klingt langweilig, ist aber wichtig für das Verständnis – denn wir fangen in Europa nirgends bei Null an.

Im Prinzip war die mittelalterliche Stadt organisiert wie heute ein Supermarkt: Der Kunde kommt beim Tor herein. Er läuft zu Fuß und schiebt eine Karre vor sich her. Hinter dem Eingang muss alles so organisiert sein, dass er sich möglichst schnell und ohne Karte zurecht findet: Hier die Gemüsetheke, da die Fleischtheke, da die Brottheke etc. Alles fußläufig erreichbar und thematisch sortiert. Genauso war es in der mittelalterlichen Stadt: Die Bäcker waren in der Bäckergasse, die Metzger in der Metzgergasse, die Gerber in der Gerbergasse, die Färber in der Färbergasse. Hühner gab es am Hühnermarkt, Rinder am Rindermarkt. Alles musste ohne Plan auf mündliche Nachfrage funktionieren. Ein Telefon gab es nicht, Papier war unbekannt oder viel zu teuer, um mit Alltagsinformationen vollgekritzelt zu werden. Auch ein moderner Supermarkt muss ohne Plan und Smartphone funktionieren. Sie sind die letzten Orte der Stadt, wo noch mündlich nach dem Weg gefragt wird. „Entschuldigen Sie bitte, wo finde ich hier die Rosinen?“

Mir persönlich kam es immer unlogisch vor, warum sich damals in den Altstädten alle Bäcker in einer Gasse versammelten, nur um sich gegenseitig Konkurrenz zu machen! In einer Welt mit schemenhaften Karten musste aber alles so organisiert werden, dass es auf mündliche Auskunft gefunden werden konnte. Außerdem wollte auch die Steuer ohne viel Papier eingetrieben werden. Die Adresse „Bäckergasse 3“ war also gleichzeitig die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer. So konnte der Fiskus sicher gehen, dass alle geschoren wurden.

Der wohl wichtigste Grund war aber ein anderer: Die Bürger mussten gegenseitig ihre Emissionen ertragen. Wenn zum Beispiel in der Bäckergasse nachts um drei der Betrieb begann und die Öfen eingeschürt wurden, konnten sich die Nachbarn nicht beschweren, da sie es auch taten. Kein Gerber konnte seinem Nachbarn vorwerfen, Tierhäute mit Urin zu präparieren, da man es selbst tat. So bekam die Stadtverwaltung Ruhe in die Viertel. Außerdem musste die Obrigkeit in Zeiten der Seuche Maßnahmen erlassen, die verkündet und überwacht werden wollten. Das taten die Gewerbetreibenden dann gegenseitig.

Der Nachteil dieser Ordnung lag auf der Hand: Wenn sich zehn Konkurrenten am Platze drängen, geht das nur gut mit Preisabsprache. Wehe dem, der ein Fünferle vom Brotpreis runterging! Das ist wie heute am Jahrmarkt: Die Zuckerwatte kostet überall gleich. Oder wie bei den heutigen Musterhaussiedlungen: Die Häuser kosten überall gleich. Es sind ja genug Kunden da.

Die Vorstellung, die Bäcker einer Stadt auf den ganzen Stadtgrundriss zu verteilen, mag den mittelalterlichen Menschen wahrscheinlich absurd vorgekommen sein. Das war etwa so logisch wie der Vorschlag, das Brotsortiment auf den ganzen Supermarkt zu verteilen! „Na ganz toll! Da findet man ja gar nichts mehr!“ Und wenn man im Supermarkt nichts findet – wird auch der Philosoph Robert Habeck schon mal sauer!

So waren die mittelalterlichen Städte organisiert wie gutsortierte Supermärkte, die alles feilboten, was die damalige Welt kannte. Die Gassen waren eng, denn Verkaufsfläche war kostbar. So ist der moderne Supermarkt die Wiedergeburt einer Altstadt. Leider wird die Stadtmauer heute mit Sandwichplatten in Firmenfarbe gebaut und der Turm darüber zeigt Benzinpreise an. Oder er lädt zur Einkehr ins Gasthaus „Zur goldenen Möwe“.

Wir sehen also heute, wie sich die Ladenfläche einer ganzen Altstadt in einem Supermarkt sammelt. Ähnlich verlief es mit den Einkaufspassagen (Shopping Malls): Hier wurden ganze Ladengassen zu Passagen zusammengefasst – inklusive „Plaza“ mit Springbrunnen, Lichtspieltheater und Eiscafé „Venezia“. Soweit also zwei Beispiele wo Stadtraum zu Innenarchitektur wurde.

In der Tat hat sich die moderne Innenarchitektur von der historischen Stadt inspirieren lassen. Sie arbeitet mit Gallerien, Emporen, Freitreppen, Podesten, Unterständen, Auf- und Abgängen. Das gab es aber bereits in historischen Stadträumen. Auch Bistroküchen und Thekenbewirtung gab es schon in der Stadt um 1900. Sogar der Plakatbehang der Litfasssäulen hat Einzug in unsere Wohnungen gehalten. Vor der Moderne war es nicht üblich, Plakate von Konzerten, Künstlern oder Vernissagen in die eigene Wohnung zu hängen. Heute finden sie sich in jedem Stadtappartement. Man kann also die These wagen, dass sich die moderne Innenarchitektur aus dem Vokabular einer oberitalienischen Stadt speist. Das ist nichts schlechtes – im Gegenteil: es belegt einen Austausch von außen nach innen. Man kann also von einer Verinnerlichung des Stadtraumes im 20. Jahrhundert sprechen. Wenn wir eine lebendige Stadt wollen, die mehr ist, als die Trickkulisse einer Autoszene im Film, sollten wir uns eine Frage stellen:

Wenn die Innenarchitektur eine Fortsetzung des Stadtraumes mit anderen Mitteln ist, kann es auch anders herum sein?

Wer das verstehen will, muss etwas furchtbar unmodernes tun und den Renaissance-Architekten Palladio studieren. Das „Teatro olimpico“ in Vicenza ist eine seiner letzten Arbeiten. In dieses Gebäude hat der Maestro eine Botschaft gepackt – über die ich heute noch viel nachdenke. Für manchen Kollegen mag das frühbarocker Unsinn sein – für mich war das Gebäude eine der wichtigsten Lektionen über Architektur überhaupt:

Die Innenarchitektur ist die Fortsetzung der Stadtplanung mit anderen Mitteln. /

Die Stadtplanung ist die Fortsetzung der Innenarchitektur mit anderen Mitteln.

Eine lebendige Stadt ist von einem Bühnenbild nicht zu unterscheiden. Gute Regisseure verstehen allesamt etwas von Stadt und Architektur, denn sie beschäftigen sich mit der Sprache der Bilder, der Perspektive, der Tiefe des Raumes, dem Spiel von Licht und Schatten und dem Ausdruck des menschlichen Gesichtes. Sie arbeiten mit Gallerien, Emporen, Freitreppen, Podesten, Unterständen, Auf- und Abgängen.

Wenn wir in der Stadtbaugeschichte des 21. Jahrhunderts etwas hinterlassen wollen, das uns nicht als kollektiv verblödet und wohlstandskrank brandmarkt, müssen wir uns auf ein paar wenige Punkte besinnen.  Eine mögliche Hilfe bei der Ausarbeitung dieser Punkte, mögen diese Texte eventuell schaffen.

Damit endet die erste Staffel dieser Reihe, denn die Ausarbeitung genannter Punkte wird Zeit, Material und Überlegung brauchen. Dem geneigten Leser empfiehlt der Autor solange seinen Aufsatz: „Urbane Dichte durch Blockrandbebauung“, eine Arbeit vom Februar diesen Jahres.

Weitere Informationen zu Palladios Teatro Olimpico und dem Bühnenbild der Renaissance stehen in einer Arbeit des Autors aus dem Jahr 2010.

Darüber hinaus natürlich das Buch des Autors „Vom Greifen und vom Begreifen“ aus dem Jahr 2013, erschienen im Selbstverlag.

Zum Abschluss möchte der Autor Ihnen vier europäische Beispiele zeigen, die die Lektion beherzigt haben: Die Außenwände der Häuser sind die Innenwände der Stadt. Die Straßen sind ihre Gänge, die Plätze ihre Zimmer. Die Architektur ist nur die Bereitstellung von unbeweglichen Möbelstücken (französisch: immeubles, italienisch: immobile).

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Zuerst veröffentlich auf Facebook am 21.03.2021

 

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