Oft denke ich beim Spazieren durch Viertel mit schöner Bebauung: „Die Wohnung da oben, würde ich so gern mal von innen sehen.“ Man kommt aber ohne Anliegen nicht hinein, man kennt die Einwohner nicht und ist nicht zu Gast. Klingeln, um das Apartment einmal sehen zu dürfen, ist auch eher unüblich in Deutschland. Auch wenn wir in keinem dieser Häuser je waren, kennen wir hunderte Fassaden in unseren Lieblingsstadtteilen – gerne auch Kiez genannt. Wir wissen von keinem, der darin wohnt, wir waren noch nie darin und werden auch nie in einer der schönen Wohnungen einziehen. Schade! Aber wir kennen die Fassade und orientieren uns an ihr.

Hierzu eine kleine Überschlagsrechnung: Der Prenzlauer Berg in Berlin hat etwa 160’000 Einwohner. Ein Mietshaus in diesen Stadtteil hat vielleicht vierzehn Wohnungen. Nehmen wir an, zu jeder Wohnung haben über das Jahr zehn Menschen zutritt. Gemeint sind Bewohner und Gäste. Es sind also 140 verschiedene Menschen, die über das Jahr die Wohnungen sehen und den Fahrstuhl benutzen. Im Vergleich zu den 160’000 Einwohnern von Prenzlauer Berg ist das eine klare Minderheit unter einem Promille. In diesem Jahr dürften es noch deutlich weniger sein.

Die Einwohner des Stadtteils kennen aber sehr wohl die Fassaden an den Straßen, besonders wenn die Bebauung an einer Ecke liegt. Hier treffen sich Passanten aus vier Himmelsrichtungen, außerdem hat die Fassade über die Kreuzung mehr Raum, gesehen zu werden. Restaurants und Bars laufen besser, denn sie werden von weither erkannt. Hoffen wir, dass sie bald wieder öffnen dürfen.

Der Architekt also, der an der Fassade arbeitet, erreicht ein wesentlich größeres Publikum, als der Kollege der nur an den Grundrissen schrubbt. Gute Grundrisse sind sehr wichtig, keine Frage, aber die letzten 150 Jahre haben gezeigt, dass sie sich mit der Nutzung ständig ändern: hier ein Durchbruch, dort eine Trockenbauwand. Nutzungsänderungen gehören zum Stadtleben. Gleich bleiben die Fassaden, während die Einwohner ein- und ausziehen, Bars öffnen und schließen, Arztpraxen übergeben werden und so fort.

Eine prominente Fassade kann leicht über 150’000 Betrachter erreichen – ein guter Grundriss vielleicht 200. Darum ist die Fassade auch ein Kulturprodukt für die Gemeinschaft. Sie bietet Wiedererkennungseffekt und Orientierung im Großstadtgetümmel. Was die Fassade betrifft, sind wir alle Kommunisten. Die Außenwände der Häuser sind die Innenwände der Stadt. Steht eine Architektur außerhalb der Stadt, kann aus dem Volumen gestaltet werden. Es ergibt sich kein städtischer Raum und der Baukörper kann wie eine Skulptur wirken. Vor schöner Kulisse fast immer ein Treffer. Überall dort, wo aber ein Schwarzplan der Stadt besteht, braucht es meiner Meinung nach eine Fassade, die die Innenwand des Stadtraumes bildet. Dann wird auch zum Beispiel auch klar, warum nicht jede Farbe eines Fächers als Fassadenfarbe tauglich ist. Dann wird auch klar, warum 180 Quadratmeter ungegliederte Wand kahl und trist wirken. Dann wird auch klar, warum Vollglasfassaden den Stadtraum nicht ausreichend begrenzen: Unser Blick ist wie ein Vogel, den wir in die Ferne aussenden. Er erkennt das Hindernis nicht und knallt dagegen.

Bei uns im Studium waren die Fassaden aber das, was man zum Schluss gemacht hat. Wehe dem, der erst eine Fassade an die Wand gehängt und sich dann Grundrisse überlegt hätte. Schimpf und Schande vor dem ganzen Semester! „Ein Haus von außen nach innen zu entwerfen“ galt als sehr oberflächlich und unfein. „Entwerfen nach Walt Disney“ – war eine typische Schmähung. Heute nach Hundert Jahren Vorhangfassaden („Curtain Wall“), stehen unsere Städte recht gebeutelt da. Obwohl die Moderne angetreten war, alles aus der Funktion abzuleiten, sehen unsere Fassaden aber merkwürdig beliebig aus, modisch wie das Muster an Omas Vorhängen, cool wie Sonnenbrillen, kurzweilig wie Freizeithemden. Die Fassade ist zum Entsorgungsartikel geworden, den man leider nicht still ins Nachttischkästchen schieben oder die Faschingstruhe geben kann. Sie muss sich an Transmissionswerten und Durchlasskoeffizienten messen lassen. Es muss irgendwo der Aufkleber A+++ an der Fassade hängen. Wenn sie dann so hässlich ist, wie eine Waschmaschine, dann ist das eben so.

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Zuerst veröffentlicht auf Facebook am 24.1.2021